Andrea
VERWUNDBARE WUNDER
Aktualisiert: 21. März 2020
DAS, WAS GERADE PASSIERT, ÜBERFORDERT VIELE VON UNS. AUCH MICH. NORMALERWEISE REAGIERE ICH AUF EIN «TOO MUCH» MIT SOFORTIGEM EINSCHLAFEN, MIT SCHREIBEN ODER MIT EINER RUNDE RENNEN IM WALD. CORONA LÄSST MICH NICHT SCHLAFEN, JEDENFALLS NICHT GUT, NICHT TIEF. ALSO REITE ICH DIE TASTATUR. UND WENN ICH FERTIG BIN, MIT DIESEM TEXT, GEHE ICH RAUS ... UND TÄTSCHLE EIN PAAR BÄUME.
Da ist sie, die COVID-19-Pandemie – im Dezember ausgebrochen in der Millionenstadt Wuhan der chinesischen Provinz Hubei, China, von dort aus raus in alle Welt, nach Japan, Thailand, auf die MS Diamond Princess, nach Südkorea, Iran, Italien, Italien, ITALIEN, Frankreich, Spanien, Deutschland, USA, die Schweiz – die SCHWEIZ: Waadt, Tessin, Zürich – ZÜRICH, hier, jetzt, am anderen Ende der Strasse, vor dem Haus, im Korridor.
Es klingelt.
Ich stelle mir vor, es ist Rosa*, meine 85-jährige Nachbarin Rosa. Ich stelle mir vor, was ich zu ihr sagen würde, wenn tatsächlich sie es wäre: «Rosa, du? Rosa, wie geht es dir? Rosa, kann ich was für dich tun? Einkaufen gehen? Was zur Post bringen? Natürlich, gerne. Aber Rosa, du solltest Abstand zu anderen Menschen halten, auch zu mir. Zwei Meter, haben sie gesagt, zwei Meter Abstand solle man halten. Social Distancing, nennen sie das. Was das bedeutet? Ach, Rosa, wie soll ich sagen? Dass ich dich nicht umarmen darf, obwohl ich das gern tun würde, und dass ich leider nicht sagen kann, dass alles gut ist. Du gehörst zur Risikogruppe. Wenn du krank wirst, dann ... Wie, du wirst sowieso sterben, irgendwann mal? – Ja, schon, aber nicht jetzt, nicht wegen des Virus’ ... und nicht wegen mir. Also, komm. Also, geh. Zurück in die Wohnung, Rosa, wasch dir die Hände, mindestens 20 bis 30 Sekunden, unter warmem Wasser, mit Seife. Und dann? Hab Geduld. Wir alle brauchen jetzt ganz viel Geduld.»
Es klingelt. Noch einmal.
Ich öffne die Tür.
Es ist keiner da. Niemand.
Durch das gekippte Korridorfenster höre ich Kinderlachen.
Ich schliesse die Tür.
Dann gehe ich zurück in die Wohnung, in die Stube, raus auf den Balkon. Atme tief ein und aus. Frühlingsluft. Atme tief ein und aus. Es riecht so gut, nach diesen weissen und gelben Blüten da drüben in den Büschen und Bäumen. Insekten tanzen in der Luft. Die Vögel zwitschern – so, als wäre alles in bester Ordnung. Der Natur geht es auch gut. Das heisst: nein, nicht gut. Aber besser, als auch schon. In Triest, hat mir jemand erzählt, schwimmen Delfine wieder bis in den Hafen, weil keine Schiffe mehr fahren. In den Kanälen von Venedig, hab ich gelesen, ist das Wasser so klar wie schon lange nicht mehr. Es werden tausende Fische geboren. Und der europäische Satellit «Copernicus Sentinel-5P» – auch das stand irgendwo im Netz – hat einen deutlichen Rückgang bei Substanzen wie Stickoxid in der Atmosphäre über Italien und anderen Regionen Europas gemessen. Ich weiss nicht, ob das stimmt. Aber ich denke, es ergibt Sinn. Und ich will es glauben.
In Triest, hat mir jemand erzählt, schwimmen Delfine wieder bis in den Hafen, weil keine Schiffe mehr fahren. In den Kanälen von Venedig, hab ich gelesen, ist das Wasser so klar wie schon lange nicht mehr.
Meine Bauchdecke hebt und senkt sich. Ein Kinderspiel, denke ich, das mit dieser Respiration. Tief ein, runter ... und wieder hoch, raus. – Die meisten Erwachsenen können das nicht mehr. Darauf wurde ich in meiner Yoga-Ausbildung aufmerksam gemacht: Viele von uns atmen meist oberflächlich und bloss in die Brust; weil wir Stress haben und Sorgen, ständig sitzen, zu enge Kleidung tragen, nicht wollen, dass sich der Bauch wölbt, weil der flach sein soll, unser Bauch, immer schön flach, also füllen wir ihn nicht mehr richtig. Aber diese falsche Atmung vergiftet den Körper schleichend mit schädlichem Kohlendioxid. «Weisst du, was noch Gift ist?», hör ich mich denken. «Keinen Körperkontakt, keine Berührung.»
Ich verlasse den Balkon, setze mich an meinen Schreibtisch und tippe bei Google drei Wörter ein: Keine Berührung Gesundheit. Dann lese ich in einem Artikel der ZEIT aus dem Jahr 2017 (also aus einer Zeit, in der beim Wort Corona noch alle ans Bier dachten, «Viva!»): «Bei Umarmungen schüttet der Körper das Hormon Oxytocin aus, das gegen Stress wirkt: Der Blutdruck sinkt, das Stresshormon Cortisol wird vermindert, Ängste und Schmerzen verblassen. Regelmässige Umarmungen könnten sogar das Immunsystem stärken und weniger anfällig für Erkältungsviren machen: Psychologen der Carnegie Mellon University in Pittsburgh befragten Probanden nach ihren sozialen Kontakten und infizierten sie dann gemeinerweise mit Erkältungsviren. Die Teilnehmer, die oft in den Arm genommen worden waren, bekamen seltener einen Schnupfen als andere.»
Ach, Rosa.
Und all die anderen, die jetzt älter und/oder alleine sind, einsam irgendwo da draussen bzw. drinnen, unberührt. Was ist jetzt richtig? Und was ist falsch? Was ist grausamer: an den Folgen einer Umarmung zu sterben? Oder in der Isolation zu leben, allein? Für wie lange?
Wovor fürchten wir uns am meisten?
Als ich klein war, gab es eine Zeit, da fürchtete ich mich vor Waldgesichtern, Waldgrimassen, die ich hinter unserem Haus zu erkennen glaubte. Boshaft wirkenden Baumwesen, die mich anstarrten, mir bedrohlich zuwinkten im Wind, mit ihren knorrigen Ast-Armen, und raunten und raschelten. Sie raunten mir entgegen, dass sie von der dunklen Seite seien, zu etwas derart Düsterem gehörten, dass sie mich verschlingen würden, wenn ich näherkäme. Ich erinnere mich, dass ich eines schönen Tages all meinen Mut zusammengenommen habe und Schritt für Schritt auf die waldgrimassigen Böswesen zugegangen bin, Schritt für Schritt, einfach durch die Angst hindurch marschiert, bis ihre mysteriöse Bedrohlichkeit aus den Bäumen verschwunden und die Bäume nur noch Bäume waren, ich sie mit meinen Kinderhänden berühren konnte. Tätscheltätschel. Gute, alte Bäume. Ich tätschelte ihre Stämme dann so, als wären sie grosse, friedvolle Tiere. Und alles war gut.

Bei diesem Virus ist es anders: Es wartet nicht «irgendwo da hinten» auf uns, schneidet keine Grimassen, bleibt unsichtbar. Man kann es auch nicht entkräften, indem man es berührt. Im Gegenteil! Genau das ist ja das Problem. Wenn wir damit in Kontakt kommen, dann ... Ja, was dann? Dann drohen Fieber und Husten und Atembeschwerden. Dann werden wir krank. Für die meisten Menschen verläuft es glimpflich, das wissen wir, viele werden nicht einmal merken, dass sie zum Virenträger geworden sind – das ist aber leider noch lange kein Grund, (weiter) zu feiern. Wir müssen Abstand halten zu anderen Menschen. Zwei Meter, haben sie gesagt, zwei Meter Abstand solle man halten. Social Distancing, nennen sie das. Und das ist wichtig. Und richtig so. Denn wenn wir das jetzt nicht einhalten, wird sich das Virus wie ein Lauffeuer verbreiten und unser Gesundheitssystem kollabiert.
Das Virus wartet nicht «irgendwo da hinten» auf uns, es schneidet kein Grimassen, bleibt unsichtbar. Man kann es auch nicht entkräften, indem man es berührt. Im Gegenteil!
Was mich betrifft, gehe ich davon aus, dass ich eine Infektion durch MERS-Coronaviren problemlos überstehen würde: Ich bin 38 Jahre alt – und meine Krankenkasse hat in den letzten 20 Jahren kaum je eine Rechnung von mir erhalten, weil der Selbstbehalt stets um ein Vielfaches höher war als meine effektiven Ausgaben. Das beruhigt mich schon, um ehrlich zu sein. Entbehrt mich nicht meiner Mitverantwortung, nein, aber ich begreife: Was für ein Glück ich da wieder habe! Schon allein das Glück, überhaupt zu leben. Das sollten wir uns öfters vor Augen führen: dass das ein Wunder ist. Dieses Leben. Dieses «Ich»-Sein, in meinem Falle, dieses «Du»-Sein, in deinem Falle.
Das sollten wir uns öfters vor Augen führen: dass das ein Wunder ist. Dieses Leben.
«Ein Wunder ist etwas, bei dem das nahezu Unmögliche eintritt. Die Chance, dass DU geboren wurdest, stand 1:10 hoch 2'685'000, war also praktisch gleich 0», steht im Prolog, den ich für ein Projekt mit einer befreundeten Sängerin geschrieben habe.
1:10 hoch 2'685'000.
Aktuell leben mehr als 7'771'984'800 Menschen auf diesem Planeten.
Heute (Stand: 19. März, 20.00, MEZ) kamen schon über 321'400 Babys zur Welt.
Heute (Stand: 19. März, 20.00, MEZ) starben bereits 134'900 Menschen.
Schaut euch die neuesten Zahlen selber an, auf worldometers.info.
Es ist verrückt, dabei zuzuschauen, wie sie unaufhaltsam nach oben klettern, Sekunde für Sekunde für Sekunde für Sekunde. Auch dabei könnte man in Panik geraten. Und trotzdem rücken uns jene Zahlen niemals so nahe, wie diese hier:
Rund 3'438 Personen wurden in der Schweiz bisher positiv getestet. 33 Personen verstarben (persönlicher Wissensstand: 19. März 2020, 20.00, MEZ).
An was mich diese Angaben erinnern?
An was uns diese Angaben erinnern?
Daran, dass auch Wunder verwundbar sind.
Der aktuelle, angsteinflössende Ausnahmezustand führt uns schonungslos vor Augen, was sich im «Normalfall» so viel leichter verdrängen lässt: Wir sind verletzlich. Wir können nicht alles kontrollieren. Wir haben nicht alles im Griff. Wir sind endlich. Wir werden sterben. Irgendwann werden wir sterben. Aber hoffentlich noch nicht jetzt und nicht wegen dieses verkackten Virus’. Also kommt, bringen wir uns in Sicherheit. Waschen wir uns die Hände, mindestens 20 bis 30 Sekunden, unter warmem Wasser, mit Seife.
Es führt uns schonungslos vor Augen, was sich im Normalfall so viel leichter verdrängen lässt: Wir sind verletzlich. Wir können nicht alles kontrollieren. Wir haben nicht alles im Griff.
Rosa weiss, dass sie nicht unsterblich ist. Viele alte Menschen wissen das – viel zu oft haben sie schon Abschied nehmen müssen, viel zu klar sind die Botschaften des Körpers, als dass sie ernsthaft daran glauben könnten, dass das Leben kein Ende kennt.
Wovor fürchten wir uns am meisten?
Davor, vor unserer Zeit zu gehen? Davor, letzten Endes nicht richtig gelebt zu haben? Die falschen Entscheidungen getroffen zu haben, keine Entscheidungen getroffen zu haben? Zu viel Zeit an den falschen Job, die falsche Partnerin, den falschen Partner verloren zu haben? Das eigene Potential nicht ausgeschöpft, unsere Berufung nicht gefunden zu haben?
Ausgelebt.
Ich beschäftige mich schon seit einigen Monaten intensiver mit der Endlichkeit unserer Existenz. Nicht, weil ich von einem geliebten Wesen Abschied nehmen musste, sondern weil wir im Mai in Zürich ein Kulturprojekt zum Tod lancieren wollten: Ich und Patrick Bolle, mein Projektpartner vom Fundbüro2 (einem Fundbüro für Immaterielles), und Paolo Monaco, mein langjähriger Begleiter vom KUSSmagazin. Seit Monaten schon lese ich also Bücher und Artikel, sammle Gedanken, Zitate, recherchiere im Netz und denke: Der Tod ist immer da. Immer. Von Anfang an und bis zum Schluss. Und meistens ignorieren wir ihn, wollen nichts von ihm wissen, schauen weg, würdigen ihn keines Blickes. Was passiert, wenn wir anerkennen, dass es ihn gibt. Wenn wir «Hallo» sagen? Nicht «Hallo, nimm mich mit», sondern «Hallo, ich seh, ich versteh: Du bist Teil meines Lebens.»
Sind wir mit unserer Endlichkeit konfrontiert, erschrecken wir. Der Tod, schrieb der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin einst so treffend, sei die einzige «radikale Neuigkeit» für den modernen Menschen. Wohl wahr. Und nun werden wir von Corona überrumpelt – obwohl wir auch da nicht behaupten können, dass es keine Warnungen gab. 2018 haben die Weltgesundheitsorganisation und die Weltbank gemeinsam das Global Preparedness Monitoring Board (GPMB) ins Leben gerufen, also eine unabhängige Expert*innen-Gruppe, die sich mit globalen Gesundheitsnotfällen befasst. Nach Berücksichtigung aller Aspekte (von politischen Trends bis hin zum Klimawandel) warnte das Team in seinem Gesundheitsbericht 2019, dass es «eine sehr reale Bedrohung durch eine sich schnell entwickelnde, tödliche Pandemie durch einen Erreger der Atemwege» gebe. Und: Wir seien darauf nicht vorbereitet.
Und jetzt? Haben wir die Pandemie. Und: Wir sind darauf nicht vorbereitet. Wir wissen nicht, was nun noch alles passieren wird. Um uns. Mit uns. In uns.
Ich bin auch überfragt. Ehrlich. Aber ich weiss, was mir persönlich sehr hilft und was ich nun möglichst jeden Tag tun werde, bis der Spuk vorbei ist: Ich ziehe meine Turnschuhe an, renne los. Den Korridor runter, aus dem Haus, bis zum anderen Ende der Strasse und weiter, zum Waldrand, in den Wald, zu den Bäumen. Diesen wunderbaren Bäumen. Und dann berühre ich sie, wenigstens ein paar davon. Tätscheltätschel. Gute, alte Bäume. Ich tätschelte ihre Stämme so, als wären sie grosse, friedvolle Tiere.
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* Rosa heisst nicht Rosa, aber Rosa, die nicht Rosa heisst, existiert. Sie lebt bei mir im Haus und lud mich in den vergangenen Monaten immer mal wieder zu Kaffee und Guätzli ein – wenn sie gemerkt hat, dass ich von zuhause aus gearbeitet hab. Und sie hat es immer gemerkt. ;) Auch jetzt arbeite ich von zuhause aus. Aber Rosa, die nicht Rosa heisst, scheint gut informiert zu sein. Sie klingelt nicht. Steht nicht vor der Tür. Höchste Zeit, dass ich ihr eine Nachricht hinterlasse und frage: «Rosa, wie geht es dir? Rosa, kann ich was für dich tun? Einkaufen gehen? Was zur Post bringen?»